Sonntag, 26. Februar 2017

ULRICH LANGE
07.05.2015 | 00:56

Schülerschwund: "...was am Image drehen."

Internate Den deutschen Internaten laufen die Schüler davon. Wieder einmal. Diesmal soll verbesserte Ganztagsbetreuung und das Klammern anhänglicher gewordener Eltern schuld sein.
So langsam neigt das Schuljahr sich dem Ende zu. Da wird es Zeit für das Thema "Auf welche (weiterführende) Schule schicke ich mein Kind?", mit dem alle Medien von Funk bis Print alle Jahre wieder ihre Spalten füllen und die Kanäle fluten. Entscheidend neue Erkenntnisse dürften da eigenlich längst nicht mehr zu gewinnen sein. Doch dem Hungrigen ist nichts zu fad, so dass auch das altbackenste Brötchen zum Aufknuspern nochmals in den Ofen wandert. Und genügend Kohldampf ist ja doch allseits vorhanden.

Vor allem Privatinstitute, die gegen oft erkleckliche Zuzahlung das anbieten, was es bei Vater Staat "für umme" gibt (jedenfalls so lange direkte und indirekte Steuern die öffentlichen Geldquellen "am Sprudeln" halten), müssen die Kundschaft wie die Schlepper auf Sankt Pauli mit immer neuen Attraktionen in ihre "Etablissements" locken. Und damit sie hierbei ihre Werbeetats ordentlich strapazieren, bieten vor allem die großen Tageszeitungen, Wochen- und Wirtschaftsblätter so genannte "Sonderbeilagen" feil. Natürlich würden die sich als reine "Anzeigenfriedhöfe" nur schlecht verkaufen. Daher werden sie mit "Geschichten" aufgehübscht, die "ein freundliches redaktionelles Umfeld" bieten, wie es in der Werbung für die Werbung immer heißt. Will sagen: Das Eigenlob im Reklameformat wird garniert mit "journalistischen" Beiträgen, die Privatschulen und Internate äußerst wohlwollend beschreiben. Standard-Überschriften: "Privatschulen werden immer beliebter!" und "Das Internat, mein zweites Zuhause!".
Noch besser funktioniert der Kundenfang allerdings in der Grauzone der Schleichwerbung, wo manch unterbezahlter Zeilenschinder oder geldgierige Redakteur sich unter der offenen Hand noch ein kleines Zubrot verdient, indem er eine gefällige Reportage oder gar eine ganze "Doku-Soap" über die "Eliteschule Schloss XY" ins Blatt resp. Programm drückt. Auch die "Öffentlich Rechtlichen" lassen sich da übrigens nicht lumpen. So könnte etwa - nur mal so als Beispiel - eine bestimmte "Mittelsperson" aus dem Unternehmerlager dem eigenen Nachwuchs etwas Gutes tun wollen, indem sie dem von diesem besuchten "Eliteinternat" etwas Gutes tut. Sie könnte - wieder nur so zum Beispiel - den Charity-Event eines bestimmten Senders großzügig sponsern. Zeitnah würde dann die Nobelwohnschule des Töchterleins in einer Reisesendung "Urlaub in Oberbayern" zufällig als Sehenswürdigkeit am Wegesrand "entdeckt" und in den glühensten Farben beschrieben. Und so hätte denn der Bimbes auf verschlungenen Kanälen (man könnte hier auch von doppelt und dreifacher Buchführung sprechen) den Weg von der privaten Schatulle des Einen in die öffentlich-rechtliche Hand des Anderen gefunden, ohne dass hier ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Sponsoring und redaktioneller Gefälligkeit nachweisbar wäre. Womit sich der geneigte Insider in seiner Auffassung bestätigt sähe, dass die Wirtschaft tatsächlich ein Kreislauf ist und die Seligkeit des Gebens noch eine Steigerung erfährt, wenn einer darüber auch das Nehmen nicht vergisst.

Konjunkturzyklen der privaten Bildungsindustrie

Nun bleibt allerdings auch dem eingefleischtesten Befürworter privater Bildungsstätten nicht verborgen, dass deren medial beschworener "guter Ruf " so gut gar nicht zu sein scheint. Der publizistische Kompass zeigt aktuell jedenfalls eindeutig in Richtung "Entzauberung" und "Mythenbeseitigung". Und so klingt es fast schon stereotyp: Private Universitäten sind laut SPIEGEL "schlechter als ihr Ruf". Privatschulen? "Schlechter als ihr Ruf", was sonst. DIE WELT entlarvt schonungslos "die größten Mythen über Privatschulen". Und die Neue Zürcher Zeitung (NNZ) lässt nicht mal an den teuersten der privaten Eliteschmieden ein gutes Haar:
"Elitäre Kreise entwickeln oft ein Selbstbild, das sich nicht mit ihren Leistungen und Fähigkeiten deckt. [...] Die Gefahr solcher deklarierten Eliteschulen ist, dass es nicht primär um Begabungen und Fähigkeiten geht, sondern um das Heranbilden eines elitären Selbstverständnisses. Sie sind darauf spezialisiert, durchschnittlich begabten Jugendlichen ein überhöhtes Selbstwertgefühl zu vermitteln."
Das Handelsblatt legt die Axt schließlich sogar an das Allerheiligste des Eliteschulwesens, die internationalen Kaderschmieden in England und USA:
"Viele Eltern träumen davon, ihre Kinder auf eine Eliteschule zu schicken. US-Forscher haben jetzt aber festgestellt: Auf Kaderschmieden lernt man keinen Deut mehr als auf normalen Schulen."
Und so fragt sich schließlich einer auf dem Ratgeber-Portal "gutefrage.de" ganz gegen den Mainstream: "Warum haben in Deutschland private Schulen einen schlechten Ruf?"
Ganz besonders schlecht scheint es allgemein um den Ruf von Internatsschulen bestellt zu sein, selbst wenn sie sich auf die Schlauesten der Schlauen (sog. Hochbegabte) spezialisiert haben und sich dank der zumindest in öffentlichen und katholischen Instituten sehr maßvollen Pensionsgelder nach den Gesetzen des Marktes doch eigentlich einer handverlesenen Schülerschaft erfreuen müssten (Grundregel: Je niedriger das "Schulgeld", desto größer die Zahl der Bewerber und desto besser wiederum die Schülerauswahl). Die "taz" berichtet etwa über die staatliche "Landesschule für mehrfach Hochbegabte" St. Afra in Meißen:
>> Die Schüler wissen, dass sie an einem exorbitanten Anspruch gemessen werden, wollen aber eigentlich ganz normale Menschen sein. Die strengen Internatsregeln mit Alkohol-, Rauch- oder Handyverbot aber fordern Überdurchschnittliches und Unterordnung unter die Gemeinschaft. "Für uns Jugendliche ist klar, dass wir uns nicht an die Regeln halten, auch wenn wir sie im Grunde wollen und aufstellen. Wir leben halt chaotisch, wild und frei", erklärt Lara. [...] Von "normalen" Problemen anderer Internate oder Schulen ist auch das Vorzeigegymnasium nicht frei. Es sind immer Einzelfälle, aber Schüler berichten von Drogen, Alkohol, Diebstahl, Mobbing, autistischen Kindern und vom Ritzen der eigenen Haut unter psychischem Druck. Im Mai drohte ein fast Achtzehnjähriger im Internet mit einem Amoklauf, scherzhaft zwar, aber von der Schulleitung sehr ernst genommen. <<
Johannes Gillrath, Schulleiter an dem katholischen Norbert-Gymnasium (Eliteschule des Sports) im nordrhein-westfälischen Knechtsteden, sagte im Interview mit der NGZ:
"Seit ich da bin, habe ich festgestellt, dass einige Jahrgangsstufen zu sorglos mit den Räumen umgehen. Mir fehlt die Wertschätzung des Reinigungspersonals. Jeder von uns macht Dreck, aber ich habe ein Problem, wenn ältere Menschen den Müll der Schüler aufheben müssen. [...] Auch wir haben Schüler mit Magersucht, Abhängigkeit von Medien und Verwahrlosung. Das gibt's überall, ganz massiv. Deshalb brauchen wir einen Therapeuten und Sozialarbeiter für schwere Fälle. Wir Lehrer sehen vieles nicht, müssen den Spagat zwischen fachlicher Ausbildung und Betreuung schaffen."
Aber den Vogel schießt ein Bericht der FAZ über eine bemerkenswerte Dealer-Karriere in einem evangelischen "Internat für kluge Kinder mit Leistungsstörungen" ab:
>> Im Internat ging Paul jeden Morgen zwischen 200 Mitschülern in einen Frühstücksraum so groß wie seine Mensa heute. Links neben dem Eingang stand ein langer Tisch, an dem die Erzieher saßen. Wer auf Ritalin war - im Internat war das jeder fünfte Junge, schätzt Paul, und in seinem Freundeskreis jeder zweite -, der holte sich hier im Vorübergehen die tägliche Ration. [...] Die meisten durften die Tablette diskret einstecken. Wem auch das zu peinlich war, und Paul war es peinlich, der durfte sich die Ration im Büro eines Erziehers abholen. Niemand sollte bloßgestellt werden, fand die Internatsleitung, es musste doch kein Schüler wissen, wer alles die Zappel-Pille schluckte. So konnte aber auch kein Erzieher wissen, wer sein Ritalin wirklich nahm. [...] In seinem Internat wurde alles zu Geld gemacht, mit dem sich das Denken und Fühlen verändern lässt. Zwei Wochen nach seiner Ankunft rauchte Paul seinen ersten Joint, vor seinem 15. Geburtstag hatte er Cannabis in jedem erhältlichen Aggregatzustand konsumiert, außerdem Pilze und Lachgas. Alkohol sowieso, der wurde für die richtige Mischung beigefügt. Das Internat von Paul hatte ein Haus für Jungen, ein Haus für Mädchen und einen halbleeren Neubau, in dem vor allem Abiturienten wohnten, die weniger behütet wurden als die Jüngeren. „Ich ging bei den Großen ein und aus, ich wurde ihr Maskottchen. Sie fanden es witzig, dass ich immer alles probieren wollte.“ [...] Aufgeputscht mit Ritalin und Bier spielte seine Clique nachts Fußball auf dem Internatsplatz oder stundenlang Counterstrike am Computer, oder sie glotzten bis zum Morgengrauen Filme im Internet. Sie kletterten durch ihre Zimmerfenster im ersten Stock, schlichen sich vom Internatsgelände in die Innenstadt und tanzten die Nacht in einem Drum & Bass-Club durch. [...] Wie jeder gute Unternehmer wusste Paul, welche Sanktionen ihm von der Aufsicht für seine Geschäfte drohten. Aber die gaben keinen Anlass zur Sorge. Wenn der Stockwerksbeauftragte ihn nach Zapfenstreich aufgeputscht auf dem Gelände erwischte, mit einer Extraportion Medikinet in der Hosentasche, musste er höchstens den Schulhof kehren. Wer hingegen mit Gras erwischt wurde, musste zum Urintest und flog vielleicht von der Schule. „Heute wird überall riesig diskutiert über Ritalin“, sagt Paul. „Damals dachte niemand groß darüber nach, ob es schädlich sein könnte, auch nicht die Erzieher. Wir bekamen es ja alle auf Rezept.“ [...] Nach einem Jahr hatte Paul sein Geschäftsmodell voll entwickelt. Er ging zu seinem Erzieher und erklärte, er hätte jetzt genug von diesem Rationierungsunsinn. Mit 16 sei er alt genug, sich jeden Morgen selbst eine Kapsel aus der Packung zu drücken. Die Mädchen nahmen die Pille ja auch nicht unter Aufsicht ein. Er bekam die Schachtel, in der 50 Kapseln steckten, und verlangte einen Euro pro Kapsel von seinen Käufern. Noch mehr zahlten die Studenten, die er sich als neue Kunden erschlossen hatte und die Pauls Kügelchen vor einer Prüfung schluckten. Die Studenten suchten keinen Kick, sie wollten einfach höchste Konzentration, und es war ihnen zu umständlich, die Ärzte von einem Aufmerksamkeitsdefizit zu überzeugen, um an den Stoff zu kommen. Pauls wichtigster Kunde war fünf Jahre älter als er, ein Student aus Stuttgart. Die beiden hatten eine Rahmenvereinbarung geschlossen: eine Wochenration Methylphenidat gegen 8 Gramm Gras. Das Gras verkaufte Paul seinen Mitschülern dann weiter. [...] So wurde aus Paul, dem 15-jährigen Schulversager, für den das Internat die letzte Hoffnung aufs Abitur war, die Firma Paul Consulting, die monatlich bis zu 100 Euro Umsatz machte. Internatsschüler durften 40 Euro Taschengeld im Monat haben, so kam Paul auf ein ordentliches Budget für Drinks in der Disko, fürs Kino, für ein Computerspiel, also für alles, was man im Leben so brauchte.<<
Angesichts einer zunehmend kritischen Sicht auf das private Bildungswesen und insbesondere die Abgründe, die sich in den Subkulturen der Internate auftun, ist es kaum verwunderlich, dass gerade letztere bei der potenziellen Kundschaft immer wieder einmal in Ungnade fallen. Sie unterliegen damit - wie die Privatwirtschaft insgesamt - bestimmten Konjunkturzyklen, die natürlich nicht nur die oben beschriebenen Ursachen haben.
Wertet man einmal die mediale Berichterstattung der letzten vier bis fünf Jahrzehnte aus, so entdeckt man einen stetigen Wechsel von Phasen sinkender und nach längstens fünf bis acht Jahre auch wieder ansteigender Nachfrage. Die Gründe hierfür sind oft banal. So wirken sich drastisch sinkende Schülerzahlen durch "geburtenschwache Jahrgänge" ebenso aus wie sinkende Einkommen aufgrund von "Dellen" in der allgemeinen Konkunkturentwicklung. Internate, insbesondere die hochpreisigen wie Salem & Co., sind "Luxus". Niemand muss zwingend ins Internat, jedenfalls so lange die familiäre Situation noch andere Betreuungsoptionen zulässt. Bei schlechter Geschäftslage verschiebt man unter Umständen den Internatsaufenthalt auf das nächste Schuljahr oder sieht sich generell nach preiswerteren Betreuungsalternativen um.
Die Abhängigkeit von wirtschaftlichen Auf- und Abbewegungen bzw. den Schwankungen im öffentlichen Ansehen wird von der privaten Bildungsindustrie nur ungern offen thematisiert, denn sie legt ein grundsätzliches Manko privater Erziehungs- und Bildungsstätten offen: Gute Pädagogik braucht Stabilität und Kontinuität sowie Unabhängigkeit von irgendwelchen Nachfragetrends. Und da hat die "Staatsschule" trotz eigener Mängel eindeutig die Nase vorn. Nicht zufällig galt die Verstaatlichung des höheren Schulwesens im 19. Jahrhundert und damit die Verdrängung der privaten (überwiegend kirchlichen) Gymnasien in weltanschauliche Nischen bzw. den Sektor der Winkelschulen und Notenpressen unter aufgeklärten Geistern stets als Meilenstein des gesellschaftlichen wie des wissenschaftlichen Fortschritts.
"Stimmungskonjunkturen", man könnte auch von bildungspolitischen Moden oder Trends sprechen, denen die private Bildungsindustrie viel stäker ausgesetzt ist als das staatliche Bildungssystem, sind nur schwer zu steuern. Dennoch muss dies versucht werden, damit Negativtrends nicht zur Existenzfrage werden. Und so wird immer wieder versucht, journalistische Kampagnen loszutreten, die aktuelle politische Entwicklungen oder den Zeitgeist aufgreifen, um Nachfrage für ein Angebot zu wecken, das staatlicherseits bereits befriedigt wird. Und so präsentieren sich die Internate in der medialen Darstellung abwechselnd mal als "Eliteschmieden" für die Leistungsstarken, mal als Bollwerk gegen bestimmte Bildungsreformen und mal als anspruchsvolle Alternative für sensible Individualisten, Hochbegabte sowie sonstwie besonders Förderbedürftige oder Förderungswürdige.
"Die Trenderitis, weiß man schon, ist nichts als Manipulation", heißt es allerdings unter Eingeweihten aus der PR-Branche. Und so wäre man wohl gut beraten, nicht auf jede Trendsau, die durchs mediale Dorf getrieben wird, herein zu fallen. Die ständig neuen Nachfragemotive, die da der Privatkundschaft permanent in den Mund gelegt werden, um zu begründen, warum diese aktuell die Privatschulen und Internate stürme, stellen zumeist nur Projektionen der Anbieterseite dar; frei nach dem von Andrea Nales so unfreiwillig komisch persiflierten Pippi-Langstrumpf Motto "Ich mach mir die Welt, widde widde wie sie mir gefällt!"
Analysen der Nachfragesituation und -motivation, die von den Privatschulverbänden oder Werbegemeinschaften natürlich nur intern kommuniziert werden, kommen häufig zu ganz anderen Ergebnissen als die offiziellen Presseverlautbarungen. Dies lässt sich besonders anschaulich an den Widersprüchen demonstrieren, die sich zwischen Verlautbarungen der PR-Abteilung der Schule Schloss Salem sowie denjenigen von Schulleitung und Trägervereinsvorstand ergeben. So meldete sich der Beauftragte für Öffentlichkeitsarbeit, Dr. Hartmut Ferenschild, erst kürzlich unter der Titelzeile: "Eliteinternate profitieren von guter Wirtschaftslage" (DIE WELT vom 02.03.2015) mit folgender Behauptung zu Wort:
"Es kommt uns Internaten zugute, dass die wirtschaftliche Lage ganz ordentlich ist".
Nur wenige Wochen später wurde von Schulleitung und Schulvorstand der Plan veröffentlicht, drei der vier Schulstandorte (Schloss Hohenfels, Schloss Spetzgart und Campus Härlen) aufzugeben und sämtliche Jahrgänge im Salemer Schloss zu konzentrieren. Hauptgrund dieser Maßnahme: Schrumpfende Schülerzahlen.
Im Zusammenhang mit den ständig aufs Neue verbreiteten Gründen für eine angebliche erstarkte Nachfrage nach Privatschulen und Internaten darf man sich nicht von der Tatsache täuschen lassen, dass die Internatskundschaft den ihr suggerierten "Must-Have-Impuls" gern internalisiert. Denn hier handelt es sich um Tarnmotive, die man sich um so lieber zu eigen macht, wenn sich mit ihrer Hilfe die zumeist eher unrühmlichen Gründe für den Wechsel ins Internat nicht nur verschleiern lassen, sondern im Gegenteil darauf hindeuten, dass hier weder Kosten noch Mühe gescheut würden, um das Beste für das Kind zu tun. Demgegenüber haben sich die gängigen Ursachen für das Outsourcing der Erziehung aus dem Elternhaus in den letzten Jahrzehnten nicht wesentlich verändert: Schlechte Noten, Erziehungssorgen oder die Erosion des familiären Betreuungssystems.
Oft stimmen in den bestellten Trendmeldungen der Medien nicht einmal die elementarsten Fakten, die ohne großen Aufwand zu überprüfen wären, wenn Produzenten und Rezipienten der guten Nachrichten die Wahrheit denn überhaupt hören wollten. Aber gerade "Internatseltern" treffen im Grunde keine rationalen Entscheidungen, sondern sind zumeist Getriebene in Situationen, die ihnen über den Kopf gewachsen sind. Folglich neigen sie zur Verdrängung durch Idealisierung des Internats. An diesem Punkt treffen sich Kundschaft und Anbieterseite. Die Eltern können ihre Kinder nicht ändern, die ihre Probleme in die Internate hinein tragen. Die Internate können dies nicht verhindern, weil sie ihre Plätze belegen müssen und im Zweifelsfall nicht wählerisch sein dürfen. Zusätzlich bieten sie als vermeintliche Problemlösungen Einrichtungen an, die als totale Institutionen eo ipso weitere Probleme verursachen, die man ohne sie gar nicht hätte. So entstehen auf beiden Seiten Tabus oder Denkverbote, die negative Eigenschaften der Zöglinge wie der aufnehmenden Einrichtung betreffen, die sich zwar jeder denken kann, die zu denken oder gar auszusprechen aber das gesamte Geschäftsmodell oder die Geschäftsgrundlage in Frage stellen würde. So entsteht eine Art Kumpanei der Verzweifelten in aussichtsloser Lage, bilden sich sektenhafte pädagogische Glaubensgemeinschaften, deren Grundlagen im besten Fall Zweckoptimismus, im schlechtesten Selbstbetrug und Realitätsverleugnung sind.

Ehrliche Antworten fallen schwer

Welche "Schere im Kopf" auf diesem Hintergrund wirksam wird, demonstriert ein am 05.05.2015 gesendetes Interview des Deutschlandfunks mit Dr. Christopher Haep, dem Vorsitzenden des Verbands katholischer Internate und Tagesinternate (V.K.I.T.), das man hier nachhören kann. Er soll im Gespräch mit Moderatorin Sandra Pfister erklären, warum den deutschen Internaten im Gegensatz zur englischen Konkurrenz mal wieder die Schüler davon laufen.
Doch was soll der gute Mann auf so eine Frage antworten - etwa die Situation der Internate nüchtern und ehrliche analysieren und sich dem Unausweichlichen stellen?
Die unteren Jahrgänge der Internatsschulen waren schon immer schwach besetzt. Da bedarf es keines neuen Erklärungsansatzes, den Pfister ihrem Gesprächspartner in Form angeblich anhänglicher gewordener Elterngenerationen in den Mund legt. Stattdessen müsste erklärt werden, warum die wachsende Zahl Alleinerziehender und die wachsende Zahl von Kindern mit Schulschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten dies nicht kompensiert? Immerhin steigt die Zahl der Inobhutnahmen durch Jugendämter von Jahr zu Jahr an. Heime der öffentlichen Erziehung haben demzufolge Hochkonjunktur. Sind Internate diesen Problemfällen nicht mehr gewachsen oder traut man ihnen eine erfolgreiche pädagogische Arbeit nicht mehr zu?
Die erhöhte Nachfrage ab Klasse 7/8, auf die Pfister hinweist, erklärt sich nach allgemeiner Auffassung ausschließlich dadurch, dass erzieherische und schulische Versäumnisse sich zumeist erst in der Pubertät massiv auswirken und dann zur Klassenwiederholung oder gar zur Gefährdung der gesamten Schulkarriere führen. Warum wiegelt Haep hier ab und spricht von "Einzelfällen"? Warum fällt es ihm so schwer, die vorrangige Reparaturaufgabe des Internats offen bekennen? Die Antwort ist: Er würde hierdurch den Erfolg einer Jahrzente währenden Imagekampagne zunichte machen, mittels derer man einen angeblichen "Imagewandel" des Internats gerade erst mühsam herbei geredet hatte, bevor dann die Missbrauchsdebatte ab März 2010 den nächsten kapitalen Imageschaden verursachte. Durch den behaupteten Imagewandel des Internats hatte man neue Kundschaft aus der abstiegsängstlichen Mittelschichtgewinnen wollen. Ihr sollte eingeredet werden, der soziale Aufstieg oder Statuserhalt ihrer Kinder führe allein über die elterliche Bereitschaft, noch den allerletzten Cent in den Besuch privater Schulen und Internate, insbesondere ein "Eliteinternat" wie Salem & Co., zu investieren. Natürlich war dies ein Fakeund hat auch nie zu dem erhofften Ansturm karrierebewusster Musterschüler geführt. Erreicht hatte man bestenfalls diejenigen, deren Abstiegsangst durch die Sorge befeuert wurde, ihr Nachwuchs könne aufgrund durchaus vorhandener Defizite im Strudel der Globalisierung vollends unter die Räder kommen.
Die Erziehungshilfefunktion der Internate offen anzusprechen, hätte bedeutet, auch noch die letzten "Internatler" mit nur "leichteren Problemen" zu vertreiben; ganz zu schweigen von den wenigen Hochleistern und Selbstoptimierern, die elterliche Leichtgläubigkeit in die vermeintlichen Karriereschmieden lockte, wo sie aber schnell eines Besseren belehrt wurden. Also erzählt Haep lieber mal davon,
"dass Jugendliche, die sich in der zehnten, elften Klasse für Internate entscheiden, doch größtenteils mit einer positiven Eigenentscheidung diesen neuen Lebensschritt wagen."
Was ja über die tatsächlichen Hintergründe dieser "positiven Eigenentscheidung" noch nichts aussagt. Darum fabuliert Haep weiter:
"Sie suchen die Gemeinschaft in den Internaten mit anderen Gleichaltrigen oder sie wollen die größere Angebotsstruktur von Internatsschulen nutzen, als man es häufiger vorfindet in den öffentlichen Schulen."
Aber das hat auch wieder nichts zu bedeuten. Die Gemeinschaft zu suchen ist noch kein positives Ziel, vor allem wenn man durch den "Milieuwechsel" in ausgesprochen schlechte Gesellschaft gerät. Hinter der Floskel von der "Gemeinschaft der Gleichaltrigen" können sich sowohl der Drang nach "Sex, Drugs and Rock'n Roll", als auch Anspruchsdenken und Selbstoptimierungswahn (für mich ist nur das Beste gut genug!) verbergen. Man geht nicht einfach nur aufs Gymnasium, sondern lernt im "im großen Stil" (FOKUS).
Nach Jahren der neoliberalen "Elitisierung der Bildung" ist zwar wenig von einer neuen Leistungselite zu sehen, dafür um so mehr von dem unangebrachten Selbstbewusstsein einer mittelmäßigen Jeunesse dorre, die sich durch den Besuch teurer Nobelinstitute vom armen Pöbel der öffentlich beschulten Einser-Abiturienten abzugrenzen versucht, weil sie das Credo einer narzisstischen Bluff-Gesellschaft bzw. Bluff-Eliteverinnerlicht hat: Haste was (und kennste wen), dann wirste was.
Dies gilt übrigens in noch höherem Maße für die derzeit boomenden Boarding Schools in Großbritannien, die ihren vermeintlich guten Ruf wohl mehr der Erdkrümmung und der feuchten Barriere des Ärmelkanals verdanken als der Überlegenheit britischer Pädagogik. Will sagen: Allein durch die Entfernung sind sie kritischen Einblicken und kritischer Beurteilung nach deutschen Maßstäben weitgehend entzogen. So fällt nur den wenigsten auf, dass die naturwissenschaftlichen Curricula in England im Vergleich zu den deutschen sehr simpel sind oder nur ein Teil der immer noch gern als "Krauts"gemobbten und zuweilen mit Hitlergruß empfangenen deutschen Bildungstouristen an ihrer Gastschule die allgemeine Hochschulreife erwerben, während es der Rest bei einem einjährigen Schüleraustausch bewenden lässt oder mit seinen beiden Lieblingsfächern irgendeinen Pupsi-Light-Abschluss erwirbt, der in der Heimat zu nichts berechtigt.
Inzwischen muss auch das anglophile Handelsblatt, eines der Sprachrohre des England-Booms bei den Internaten, zerknirscht einräumen, dass man einer US-amerikanischen Studie zufolge selbst an den elitärsten Kaderschmieden des englischen Sprachraums nicht mehr lernt als an jeder x-beliebigen staatlichen No-Name-School. Macht aber nix, denn exzellente Karrieren und einträgliche Positionen sind ohnehin nicht das Ergebnis individueller Exzellenz, sondern weit häufiger eines zeitig aufgebauten Beziehungsnetzwerks, das nützliche Kontakte zu einflussreichen Seilschaften und Förderern ermöglicht.

"...was am Image drehen", aber was?

Objektiv betrachtet, haben englische und deutsche Internate ähnliche Probleme. Nur werden die englischen Nobelschulen immer noch viel positiver wahrgenommen. Zudem lässt sich der Mehrwert perfekter Englischkenntnisse und früher Auslandserfahrung nach jahrelangem Besuch einer Boarding School auf der Insel kaum in Abrede stellen. Den deutschen Internaten haftet dagegen hartnäckig (und wohl auch zu Recht) der schlechte Ruf der verkappten Fürsorgeerziehung an. Und seit 2010 gelten sie als Tatorte inflationärer pädokrimineller Vergehen.
Rein theoretisch könnten deutsche Internate ihre Nachwuchssorgen natürlich etwas mildern, wenn es ihnen gelänge, den Strom der nach England Abwandernden wieder in die eigenen Schulstuben zu lenken. Ob die heimischen Institute, so will Sandra Pfister im DLF-Interview vom V.K.I.T.-Oberen Christopher Haep in diesem Zusammenhang wissen, gegenüber der britischen Kunkurrenz "nicht insgesamt auch was an diesem Image drehen" müssten. Doch was soll da gedreht werden und mit welcher Intention?
"Da müssen die Internatsschulen aufpassen", glaubt Haep, was immer das auch heißen mag. Vielleicht dieses:
"Sie müssen sich aufstellen und das, was sie an positiven pädagogischen Programmen praktizieren, viel stärker in der Öffentlichkeit auch mitteilen, viel stärker öffentlich machen, viel stärker an ihren Profilbildungsprozessen arbeiten und akzentuieren, was sie sozusagen abgrenzt von der Heimerziehung."
Speziell dem angesprochenen Vertrauensverlust infolge der zahlreichen Missbrauchsfälle hält Haep entgegen:
"Viele Internatsschulen haben sich aufgemacht und hervorragende Schutzkonzepte für ihre Einrichtungen entwickelt und eine neue Kultur der Achtsamkeit und Wertschätzung implementiert seit vielen Jahren schon. Präventionskonzepte sind entstanden, Mitarbeiter sind speziell geschult worden, so dass man immer wieder auch sagen kann, zum Teil scheinen Internate sich da wirklich auf einen neuen und wirklich guten Weg gemacht zu haben."
Nun weiß man aber doch eines: Kinder und Jugendliche werden generell immer schwieriger. Und mit der wachsenden Zahl der Problemfälle wachsen erfahrungsgemäß auch die Probleme in den Internaten. Denn genau dorthin werden "Problemfälle" häufig abgeschoben, wenn Schule oder Familie sie nicht mehr aushalten. Verschlechtert sich aber das "soziale Klima" in den Internaten, führt dies zu einer Abwärtsspirale, die den schlechten Ruf der Internatsschulen und Schülerheime verfestigt und rückläufige Nachfrage chronifiziert. Wie schon einmal Mitte der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, als die WamS titelte: "Deutsche Internate vom Aussterben bedroht!"
Und was die "Schutzkonzepte" gegen sexuellen Missbrauch Schutzbefohlener durch Lehrer und Erzieher angeht: Hier schaut Haep allzusehr durch die rosarote Brille des Verbands-Vertreters und redet sich die Situation schön. Konzepte, die sexuelle Übergriffe wirksam verhindern, gibt aus auch nach 5-jähriger "Aufarbeitung" noch nicht. Nach wie vor liegt über dem Missbrauch der "Mantel des Schweigens". Und gerade die katholische Kirche muss sich mangelnde Aufklärungsbereitschaft vorwerfen lassen, insbesondere im Hinblick auf den sexuellen Missbrauch an katholischen Ordensschulen und Internaten, die auch eine jetzt in Auftrag gegebene zweite Untersuchung ausklammert. Zudem weiß man seit der im Jahr 2012 veröffentlichten DJI-Studie "Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen" doch, dass sich die gesamte Problemstellung allein dadurch verändert hat, dass im Gegensatz zu früher, wo es sich durchweg um erwachsene Täter handelte, heute vor allem die Jugendlichen untereinander übergriffig werden. In dem der Studie zugrunde liegenden Untersuchungszeitraum (2009-2011) waren sexuelle Verfehlungen von Erwachsenen bestenfalls noch ein marginales Problem . Nur in etwa drei Prozent der Verdachtsfälle in Internaten richteten sich einschlägige Anschuldigungen noch gegen Lehrer und Erzieher, der Rest gegen Mitbewohner oder Personen außerhalb der Internate. Und hierzu muss man folgendes wissen: Sexuelle Gewalt unter Kindern und Jugendlichen ist gerade im Kontext der subkulturellen Strukturen totaler Institutionen kaum zu verhindern und aufzuklären, weil hier ein rigides "Gesetz des Schweigens" herrscht. Wer "petzt" und damit unter Umständen sogar die Entlassung eines in der Gruppe dominierenden Mitschülers "verschuldet", ist unter den Mitschülern vollkommen geächtet. Und in der Peergroup isoliert zu werden, ist für Pubertierende nahezu das Todesurteil. Da erträgt man lieber jeden Missbrauch und jede Demütigung, als sich einem Erwachsenen anzuvertrauen.
Das klingt nicht nach großem Wurf und schnellen Erfolgen. Wie man's auch dreht: Imagemäßig ist da wohl wenig zu drehen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen